Ich dichte Jean-Claude Juncker. Erschienen auf Deutsch und Griechisch in „Anthologia Neon Austriakon Poieton – Anthologie junger österreichischer Lyriker*innen“, Vakxikon, Athen, 2019
Hier sitze ich und schreibe ein Gedicht.
„Ich kann nicht anders“ (Luther unterrichtet,
in der Hauptschule, vorgestern),
sitze, lese, „wer jetzt allein ist, wird es
lange bleiben“, Zeitungen lese ich (mein Kopf rattert:
welchen Journalisten kenne ich, kann ich
einladen in die Schule, kurzfristig?), „wir können uns
über das Phänomen beklagen“, sagt Jean-Claude Juncker,
EU-Kommissionspräsident (ein Gedicht, dieses Wort),
über Rechtspopulismus,
das Phänomen, ich nehme das Wort her,
Sonntag, die Herbstsonne scheint so
heliozentrisch, wie sie das seit Milliarden
Jahren tut, ich besehe das Wort,
ich dehne und spitze die Lippen, schlage
das l am Schluss an den Gaumen, ich sehe
mein Ich als Hologramm im Montagsklassen-
zimmer, phä-no-me-nal, das habt ihr
phänomenal gemacht! Und wisst ihr noch,
wir haben in Physik gelernt, dass „Phänomen“
ein Ereignis, eine Erscheinung meint, Styroporteilchen
schweben, wenn du ein Lineal aus Plastik über sie hältst,
das du vorher an Wolle gerieben hast? Elektrostatik,
wisst ihr noch?, und jetzt lesen wir das hier:
Nationalismus, eine Erscheinung, und das sagt
dieser Mann, der sowas ist wie der
Bundeskanzler der EU: was sagt er denn?
Lies mal den Absatz über die Pressefreiheit,
Ali, danke.
„Wenn Gefahr für die Pressefreiheit droht,
für die Grundrechte, wenn zur Intoleranz
eingeladen wird, muss man aufstehen.“*
Ich sitze, stehe dann morgen wieder
im Kämmerchen meiner fünfzig
Minuten, ich werde manche Wörter
langsam sagen, deutlich, sie dehnen,
erklären, und das Wort wird springen
aus der Zeitung in die Hefte, auf die Zungen,
in die Köpfe,
und das Wort wird
Fleisch werden. Unter uns wohnen.
Ich dichte.
* Interview im Falter, 41/2018, S. 12